Während Handelsnamen oft die Aufmerksamkeit von Marketing und Patienten erhalten, liegt für die ärztliche Praxis der größere Nutzen in der Logik der International Nonproprietary Names (INN). Sie sind nicht nur einheitliche Bezeichner, sondern transportieren pharmakologische Information – eine Art „linguistische Kodierung“.
Klassenzuordnung durch Namensstämme
Viele INN-Endungen haben Signalcharakter und erleichtern die Orientierung:
-olol = Betablocker (Metoprolol, Bisoprolol)
-pril = ACE-Hemmer (Enalapril, Lisinopril)
-sartan = AT1-Antagonisten (Valsartan, Losartan)
-mab = monoklonale Antikörper (Adalimumab, Trastuzumab)
-tinib = Tyrosinkinase-Inhibitoren (Imatinib, Osimertinib)
Gerade bei onkologischen Wirkstoffen, wo jährlich neue Substanzen zugelassen werden, ist dieser systematische Aufbau ein wichtiges Hilfsmittel, um den Wirkmechanismus zumindest grob einzuordnen – auch wenn der volle therapeutische Kontext natürlich weiter differenziert werden muss.
Differenzierung und Fallstricke
Die Nomenklatur ist aber nicht immer intuitiv. So stehen Endungen wie ‑ximab (chimäre mAbs) oder ‑zumab (humanisierte mAbs) für feine strukturelle Unterschiede, die klinisch – etwa im Hinblick auf Immunogenität – durchaus relevant sind. Ähnlich verhält es sich mit den ‑tiniben: Nicht jeder Tyrosinkinase-Inhibitor greift am selben Target an, auch wenn der Name suggeriert, die Substanzen seien eng verwandt.
Zudem bergen ähnlich klingende Namen Risiken: Hydralazin versus Hydroxyzin, Celecoxib versus Celexa® (Citalopram, USA). Internationale Behörden wie EMA und FDA prüfen deshalb streng auf mögliche Verwechslungen, doch in der klinischen Realität bleiben „look-alike, sound-alike drugs“ ein Thema – mit dokumentierten Medikationsfehlern.
Nutzen im ärztlichen Alltag
Gerade im Klinikbetrieb, wo Handelsnamen je nach Land oder sogar je nach Klinikformular variieren können, ist die Orientierung über INN-Endungen oft die verlässlichere Strategie. Ein Stationsarzt erkennt bei einem ‑pril oder ‑sartan sofort die Zugehörigkeit zur antihypertensiven Therapie – auch wenn ihm der Markenname noch nie begegnet ist.
Sprachliche Balance
Ein Dauerthema in den WHO-Expertengremien ist die Spannung zwischen Präzision und Praktikabilität. Zungenbrecher wie „Obinutuzumab“ sind wissenschaftlich korrekt, im Alltag jedoch wenig benutzerfreundlich. Hier liegt der Balanceakt: so viel Information wie nötig, so viel Kürze wie möglich.
Wenn Namen groß herauskommen: Tall-Man Lettering
Ein etwas eigenwilliger, aber sehr effektiver Kniff in der Arzneimittelnomenklatur ist das Tall-Man Lettering. Dabei werden bestimmte Buchstaben in einem Wirkstoffnamen absichtlich GROSSGESCHRIEBEN – etwa bei predniSONE und predniSOLONE. Durch die Hervorhebung sollen ähnlich aussehende Namen unterscheidbarer werden und so Medikationsfehler verhindert werden.
Und warum heißt das Ganze „Tall Man“? Ganz bildlich: Die großen Buchstaben „ragen heraus“, wie große Menschen in einer Menge – man übersieht sie nicht so leicht. Ärzte und Apotheker sollen dadurch im Alltag schneller erkennen, dass es sich um zwei verschiedene Substanzen handelt.
Fazit
Für Ärztinnen und Ärzte sind Arzneimittelnamen mehr als Etiketten – sie sind Werkzeuge zur Orientierung. Namensstämme ermöglichen schnelle Klassenzuordnung, Endungen verraten oft den Wirkmechanismus, Unterschiede in den Silben können klinische Relevanz haben. Wer die Systematik kennt, ist im Vorteil: beim Erkennen neuer Substanzen, beim Vermeiden von Verwechslungen und beim schnellen Transfer von Leitlinien in die Verordnungspraxis. Und notfalls hilft eben die GROSS-SCHREIBUNG…